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Eine Weihnachtsgeschichte

 

Der Winter war schon weit hereingebrochen, Felder und Wiesen waren von einer dichten Schneedecke überzogen. Der Himmel war grau, er war kalt. In den Wäldern hatten die Bäume schwer zu tragen, der schwere Schnee bog ihre Äste, sie schienen fast zu brechen. Vereinzelt waren Eichhörnchen zu sehen, die mühelos über den Schnee huschten. Vergrabene Nüsse und andere Leckereien waren ihre Ziele. Sie schienen auch zu frieren, genau wie die Rehe, welche dort an der Futterstelle ihren Hunger stillten. Der neblige Atem aus ihren Nasen verreit die kalte Winterzeit. Leichtes Schneien trübte die Sicht. Es waren keine Menschenspuren, die da im Wald verliefen, es waren Waldtiere, Waldbewohner, sie suchten hier Geborgenheit, der Wald gab sie ihnen. 

Vom Waldrand aus schauend waren Felder, verschneite Felder zu erkennen, sie zogen sich über Hügel und Senkungen. Nur vereinzelt stachen Sträucher und Bäume aus dem Schneemantel. An den Feldern vorbei zog sich ein Feldweg, ein Feldweg auf dem sich Menschen auf Schlitten und Ross ihren Weg  bahnten. Ein von Frost überzogenes Pferd zog dort einen Schlitten, die Menschen, ein älteres Ehepaar, hatten sich in ihren Decken zusammengekauert, sie wollten schnell nach Hause, sie wollten schnell an einen wärmeren Ort. Knirschend drückte sich das Weiß unter den Hufen zusammen, eine Spur war der Zeuge ihrer Fahrt. Das nicht weit gelegene Dorf legte sich wie ein junges Reh in eine Senkung, war von den angrenzenden Hügeln geschützt. Die Dächer waren weiß, aus den Kaminen stieg weißer Rauch gen Himmel. Die Menschen hatten es dort warm, sie wärmten sich an Holzfeuer, sangen weihnachtliche Lieder, aßen Lebkuchen - nein, sie froren nicht. Das schienen die spielenden Kinder am Ortseingang auch nicht, zu sehr tollten sie im Schnee, fuhren Schlitten, warfen Schneebälle. Ihre Pudelmützen und Schneekleidung hielten sie warm. Wenn sie fertig waren gingen sie ins Warme, gingen sie nach Hause. 

Dies alles beobachtete jemand, kein Mensch, keiner derjenigen die dort im Dorf lebten, nein, dieser jemand hatte ein Fell, es gab ihm Wärme, die Wärme die er brauchte um in diesen kalten Tagen zu überleben. Seine langen Ohre, seine großen Hinterpfoten verreiten ihn. Ein Hase, ein Feldhase. Er war nicht  braun wie seine Zeitgenossen, ihn schmückte ein weißes Fell. Dicht und weich gab es ihm Schutz. Seine großen dunklen Augen, seine schwarze Stupsnase, er war kein gewöhnlicher Hase, er war noch jung, er war noch auf der suche nach dem Leben.

Dieser Hase wurde dort hinten im Wald geboren, seine Mutter lebte nicht mehr, sie wurde letzten Frühling von einem Fuchs erlegt, er hatte es mit ansehen müssen. Er trennte sich früh von seiner Familie, wollte die Welt erkunden, wollte die Welt sehen. So lief er jeden Tag, ob kalt oder warm, von seinem Bau durch den Wald, über die Felder und setzte sich auf einen Hügel. Dies tat er jeden Tag, immer die selbe Strecke, immer der selbe Wald, die selben Felder. Seine Geschwister folgten ihm nicht, sie verstanden ihn nicht, waren nicht so wie er. Er ging immer morgens, hoppelte über Zweige, streifte den Schnee, der auf ihnen lag. Die vielen Fußspuren verrieten seinen Gang, er hatte seinen eigenen Weg. Was er auf diesem Hügel machte? Nichts, er saß immer nur da, schaute auf das Dorf, die Kinder, vorbeikommende Menschen. Man konnte meinen er wollte mitspielen, wollte ein Teil dieser Menschen sein, wollte so sein wie sie. Sehnsucht spiegelte sich in den Tiefen seiner Augen. Er schaute nur, nicht stolz wie ein König auf seinem Thron, nein, er wich wenn ihn jemand bemerkte, konnte sich mit seinem weißen Fell gut ihm Schnee verstecken. Er sah viel, er sah es vielleicht nicht so, wie wir es sehen würden, er sah vielleicht mehr. 

Wenn es dämmerte kehrte er wieder zurück, der selbe Pfad, der selbe Gang. es machte nichts aus, wenn es über Nacht wieder schneien sollte, zu oft kam er hier entlang, zu oft drückte er den Schnee wieder flach. Kam er zu Hause an, verkroch er sich in seinen Bau, weit unter der Erde. Er schlief dort, fand dort Wärme, Geborgenheit und Stärke, die er am folgenden Tag wieder brauchen sollte. Er träumte davon mit den Kindern zu spielen, mit ihnen zu tollen, träumte davon in eines dieser warmen Häuser zu gehen, mit den Menschen dort zusammenzusein. So wollte er es jahrelang, seit er laufen konnte, so ging er jeden Tag den selben Weg: Durch den Wald über die Felder auf den Hügel und wieder zurück. "Nur einmal so sein wie sie."

Der neue Tag erwachte in der eisigen Winterlandschaft, eine wunderschöner Sonnenaufgang leitete ihn ein. Vögel zwitscherten, flogen umher um Futter zu suchen. Der leichte Schneefall hinderte sie dabei. Morgennebel hing noch vereinzelt über den Feldern, über den weißen Feldern. Es schien ein Tag zu sein wie jeder andere, es schien ein gewöhnlicher Tag zu sein. Doch an diesem Tag kam kein Hase, an diesem Tag blieb der Hügel leer, an diesem Tag fehlte er. Der Trampelpfad vom Wald auf den Hügel blieb heute unbenutzt, Schnee überdeckte langsam die kleinen Hasenspuren. Wo war er? Seine dunklen Augen? sein weiches Fell? Hatte er heute verschlafen, sein Leben geändert? Nein, hatte er nicht, er hatte nicht verschlafen, er lag dort am Waldrand. Eine dünne Schneedecke überzog ihn, Blut drang aus seinem kleinen Körper, es breitete sich im Schnee aus. Ein Jäger hatte ihn erlegt, hatte ihn aus der Welt genommen. Er legte an, zielte und drückte ab. Sah den Hasen als Beute. Nichts aber auch gar nichts wusste er über ihn, für ihn war er nur ein frischer Braten. Sein weißes Fell sollte "nützlich" gemacht werden. Seine großen Augen waren geöffnet, doch sie bewegten sich nicht. Sie werden nie wieder Kinder sehen, die im Schnee spielen, sie werden nie wieder gemütliche und warme Häuser sehen, nie wieder Menschen, nie wieder Leben. In seinen Augen spiegelt sich jetzt seine Seele wieder, das Leben ist aus ihm gewichen, er wird nie wieder in seinen Bau zurückkehren.

Niemand wird ihm nachtrauern, weil niemand ihn kannte. Er wird keinen Platz in den Herzen der Menschen finden, die seine Vorbilder waren, mit denen er leben wollte. Er wird nie wieder erwähnt werden, sein Kapitel ist geschlossen worden, er wollte es noch nicht beenden.

Sind es nicht die Gefühle, die Gesten, die Gedanken die einem mehr geben, als alle Geschenke dieser Welt. Wünscht sich nicht jeder ganz tief im Inneren, dass man an ihn denkt, dass man sich an ihn erinnert. Ist das nicht das schönste Geschenk das einem zu Teil werden kann? Materielle Dinge geben Freude, menschliche Gesten geben Geborgenheit, geben Liebe.

 Weihnachten ist die Zeit der Erinnerungen, Weihnachten ist die Zeit der Gedanken, wir sollten sie als solche bewahren. 

Frohe Weihnachten!

Stefan Faiß (09.12.2002)