Schmerzen anderer Natur
Bei Kilometer 10 geht man meist locker durch, ist genau an der Stelle, wo es rollt, wo der Blick auf die Uhr darüber entscheidet, wie man die folgenden 11,1km im Kopf in Angriff nimmt. Erst später sagt dir der Körper ob du zu viel wolltest. 37:30 Minuten bin ich durch, die 5 waren zuvor in 19:07 Minuten absolviert. Und zwischen diesen beiden Zeiten fühlte ich, spürte ich dieses Urgefühl des Rennens, dieses: Heute werde ich meine Leistung voll abrufen, es rollt. Immer schneller zog ich den Schritt, konzentrierte mich auf das Rennen, brannte vor Tatendrang.
Nach 12 Kilometern zeigte die Uhr 45 Minuten. 45 Minuten die ich zwei Wochen zuvor bei einem Tempodauerlauf im Training nahezu gleichschnell gerannt bin. An dieser Stelle spürst du, dass du deinen Körper an der Schwelle bewegst, greifen die ersten Gedanken schon die Rechnung: Gesamtkilometer minus gelaufene Kilometer. Jene Rechnung die man auch als Rechnung der Qualen bezeichnen kann. Denn sie lässt Kopf und Körper nahezu in gleichem Maße leiden. Verzweifelt versuchst du diese Rechnung wieder aus deinem Kopf zu bekommen, doch diesen Kampf gewinnst du nicht.
Nach 15 Kilometern in 56 Minuten blieb ich das erste Mal an einem Verpflegungsstand stehen, trank reichlich und raffte mich wieder auf, das Tempo wieder aufzunehmen. Es war die letzte Zeit, die ich von meiner Uhr ablas, danach war die Zeit vollkommen dem Kampf gewichen. Ein ständiger Wechsel zwischen Kraftzuwachs und rapidem Kraftschwund, ein Wechsel zwischen langsamem und akzeptablem Tempo, ein Intervalllauf. Den Kopf beschäftigten hingegen in völliger Klarheit Fragen wie: "Ok, mir fehlen Kilometer in der Vorbereitung, aber eine schnelle Zeit kann es dennoch werden." oder "Wenn ich jetzt in einem 5er Schnitt durchlaufe, dann kann ich immer noch Bestzeit erreichen." Alles unbewusste Versuche des Geistes sich der Schmerzen zu entblößen.
Der letzte Kilometer ging auf das Daimlerstadion zu, wo Massen von Zuschauern feiernd am Streckenrand jubelten. Es war ein Bett, eine Bahn bedeckt mit Endorphinen. Endorphine, die den Schmerz ausschalten, die den Kopf reinwaschen von Rechnungen. Endorphine die deinen Körper mit Gänsehaut überziehen, die es dir ermöglichen, den letzten Kilometer unter 3:30 Minuten zu rennen, den letzten Kilometer gut auszusehen.
Dann bist du im Ziel, bist innerlich heiter, bist erfreut diese 1:19:07h erreicht zu haben. Verdrängst Gedanken die dir Vorwürfe machen, dass du nicht auch noch unter 19 geblieben bist. Du verdrängst diese, weil du deinen Körper belohnen willst, weil der Geist den Körper belohnen soll. Meinen Körper belohnte ich zusätzlich, versorgte ihn mit unzähligen Isogetränken, mit Wasser, Bananen, mit all den Gaben, die wie scheinheilige Entschuldigungen auf den Körper gewirkt haben mussten.
Der Wind blies leicht, blies kalt auf mein nasses Trikot, von der Sonne war nichts zu sehen. Die Zeit verging, langsam waren die Endorphine wieder verschwunden, wirkten sie nicht mehr schmerzstillend. Meine Beine waren Schmerzen, waren 21,1km maximal auf Asphalt gerannt. Mein Körper fing an zu frieren, vermochte keine Wärme zu speichern, mein Körper war an die Grenze gestoßen, die der Mensch nicht mit anderen Mitteln überschreiten sollte. Dastehend, nicht wissend, wo die Wechselkleider blieben. Wie im Lauf griff ich wieder nach der Rechnung, doch dieses Mal war die Gesamtzeit unbekannt, war die wartende Zeit, die schmerzende Zeit die Qual. 30 Minuten waren vergangen, mein Körper war völlig entkräftet, die Kälte drang immer weiter in mich ein, Zittern kam auf, mein ganzer Körper fing an zu zittern. Sitzen, liegen, gehen, nichts führte zu Besserung nichts konnte gegen die Zeit ankommen.
Meine Kleider waren endlich da, ich zog mich um, ich fühlte mich wie im tiefsten Winter. Das Zittern war nun nicht mehr bloß eine verübergehende Erscheinung, das Zittern hört nicht auf, es sollte so schnell auch nicht aufhören. Mein Körper war vollkommen ausgekühlt, er versuchte sich nun so Wärme zu verschaffen. Meine Lippen wurden blau, mein Verstand war wieder von Schmerzen überflutet, war wieder in einem Kampf. Mein Körper hatte den Kampf längst nicht mehr unter Kontrolle, bewegte sich nun an einer Schwelle, die nicht mehr vom Kopf gesteuert wurde. Tausende Menschen um mich, ich konnte sie nicht mehr klar wahrnehmen, wollte dies nicht mehr, mein Körper machte mir langsam sorgen.
"Kommen sie rein, legen sie sich hier hin", bat mich eine Schwester des Deutschen Roten Kreuzes auf eine Pritsche. Die bloße Frage nach einer Decke wurde wohl als Hilferuf empfangen, dem es mit allen Mitteln Hilfe zu leisten galt. Nach und nach häuften sich erst 3, dann 4, bis am Ende vielleicht 6 Decken auf mir lagen. Doch nach einer halben Stunde in dieser Lage schaltete mein Körpern das Zittern immer noch nicht ab. Mein Körper war in ein Extrem geraten, das sich in etwa so anfühlt, als ob du im Winter frierend an der Bushaltestelle stehst, dir deine 3 Jacken nichts nützen und der Bus einfach nicht kommt, der Wärme verspricht. Nein, den Bus, den sah auch die Ärztin so schnell nicht kommen. In meinen kaum durchblutenden Arm wurde eine Nadel gejagt, wurde erst nach 3 Versuchen erfolgreich eine Nadel gesetzt aus der auch Blut floss. In diesem Moment wollte ich lieber einen Tag frieren, anstatt wieder Schmerzen, wieder neue zerstörende Schmerzen zu ertragen. Die Kochsalzlösung tropfte über meine Hand in meine Blutbahn. Besser wurde es kaum, doch es wurde besser, es konnte nur besser werden. Nach einer Stunde hatte es ausgetropft, mein Körper konnte endlich wieder Wärme produzieren, konnte langsam die Rechnung abschließen. Jetzt wollte ich nicht mehr rechnen, wollte keine Qualen, keine Schmerzen mehr. Die nächsten Tage lief ich nicht.
Ich möchte sagen, dass Schmerzen die Worte des Körpers sind, möchte sagen, dass man diesen Worten Gehör schenken sollte.
Stefan Faiß (11.06.2005)