Alles nur für 36:31 Minuten?
Es ist der letzte Kilometer, meine Atmung geht schwer, meine Gedanken hängen an dem Wort "Ziel", ich höre meinen Trainer rufen: "Komm, noch ein paar Meter! Auf geht's! Los!" Es sind Worte die wie Tropfen auf den heißen Stein wirken, es sind Worte, die mein Unterbewusstsein mit letzten Energiereserven quittiert. Ich tauche ein letztes Mal aus meinem monotonen, schmerzenden Loch auf und sehe einen roten Athleten vor mir. "Diesen Roten schnapp ich mir noch", flackert der Wille auf. "Ich hole mir diesen Roten noch." Auf der Zielgeraden verspüre ich nur noch Enttäuschung, es ist kalt, es ist nass. Dieser Rote exsistiert nicht mehr. 36:28, 36:29, 36:30... ich verfluche den Stress, den ich mir wegen diesem Rennen gemacht habe: Wo ist die 34er Zeit? Wo ist der Leistungssprung? Wo sind die Kilometerumfänge in der Vorbereitung geblieben? Erschöpft und leer stocke ich ins Ziel, nicht körperlich fertig, nicht mit dem Gefühl vorgenommene 110 Prozent gegeben zu haben - psychische Schmerzen überwiegen. Ich will hier weg, ich möchte ganz weit weg von diesem Ort, weg von den "Deutschen".
Locker geht der Schritt, ich genieße die frische, die kühle Luft, die durch meine Lunge strömt. Meine Beine laufen rund, entspannen sich auf weichem Untergrund, arbeiten in gewohntem Stile. Es geht durch Wald, über Feldwege. Spaß, Freude am Laufen heißen die Überbegriffe. Meine Freundin Tine läuft mit mir, Tine ist die drittbeste 10km Juniorin in Deutschland, mit ihr brauch ich mir keine negativen Gedanken machen. Den Kopf darf man nach einem solchen Debakel nicht in den Sand stecken, der Kopf muss mit positiven Gedanken genährt werden. Wir unterhalten uns, haben Spaß am Laufen, so wie in vielen Läufen zuvor in dieser Saison, in der Vorbereitung auf die "Deutschen". Ich freue mich für sie, was soll ich auch über 36:31min jubeln? Wenn Unmut, wenn Gedanken aufblitzen, die ein schreckliches Gesamtbild formen - ein Jahr Vorbereitung auf die "Deutschen" für die Katz!? Hunderte, teils schmerzhafte, Läufe für diese 36 Minuten und 31 Sekunden? - muss man sich in Erinnerung rufen, dass Training nicht nur Arbeit für die "Deutschen" war. Training mit Tine, Training mit anderen Athleten, allein, ist Spaß, ist Hobby, Freude am Sport.
Der Untergrund ist wieder Asphalt, eben und gerade führt er dahin. Ein leichter Wind bläst ins Gesicht, ruhig und gleichmäßig ziehe ich meinen Schritt, koordiniert, kontrolliert geht es dahin. Viele andere Menschen tun selbiges, säumen den Asphalt. Meine Schuhe haben Griff, es sind mittlerweile drei Tage seit den "Deutschen" vergangen. Keine Enttäuschung mehr, kein Frust mehr vorhanden, geht es mit Tine auf dem breiten Stück dahin. Die Zeit spielt keine Rolle, es geht nicht um 36:31min, es geht nicht um Kilometer. Wir biegen von der Fußgänger ab, kehren in eines der vielen Geschäfte am Rande ein, durchforsten Etagen, Kleiderständer, Regale, gehen Essen, gehen weiter. Freude den anderen zu haben. Menschen kommen uns entgegen, Menschen strömen mit uns. Noch einmal rein, raus, Kaufhaus um Kaufhaus, gemütlich im Schritt, ausgeglichen in der Seele. Meine Atmung geht nicht schwer, es gibt keinen letzten Kilometer, ich will keinen "Roten" überholen. An diesem Tag geht es nicht ums Laufen. Laufen ist nicht mein Leben, Laufen ist mein Hobby.
>Gewidmet meiner Freundin Tine
>Anmerkung: Deutsche 10k Straßenmeisterschaften am 19.09.2004 in Bad Liebenzell.
Stefan Faiß (22./23.09.2004)