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"In 1 1/2 Stunde bin ich zurück!"

Wieder einmal hieß das Urlaubsziel für die Sommerferien: Schweiz. Wenn es nach mir ginge würde auch nichts anderes in Frage kommen. Schon als Kind habe ich diese Land in mein Herz geschlossen. Wunderschöne Landschaften, Bergdörfer und Eisenbahnen bieten eine perfekte Grundlage für Ausflüge, Wanderungen oder Abenteuer. Speziell der Brienzer See bietet hier optimale Möglichkeiten, all diese Genüsse zu bewundern und zu erfahren. Schaufelraddampfer auf dem See verbinden die ankränzenden Ortschaften. Badestrände und Wanderwege kreisen das kühle Nass ein. Auch die mit Dampf betriebene Zahnradbahn auf das angrenzende  Rothorn wäre schon alleine ein Grund, hier Urlaub zu machen. Schnaufend zieht sie täglich viele Wanderer und Touristen auf den 2350m gelegenen Aussichtspunkt.

Selbst durfte ich schon diesen einprägenden Augenblick erleben. Ich lasse dieses Erlebnis noch einmal wie ein Film vor meinen Augen abspielen. Kein Traum ist schöner  Die Fahrt zum Gipfel wird von einem atemberaubenden Ausblick gekrönt. Kraftvoll und Mächtig liegen die Giganten im Auge. Teilweise mit weißen Spitzen versehen, spiegeln sie die vollendete Zufriedenheit der Seele wieder. Eiger, Mönch und auch Jungfrau heißen die Bekanntesten. Doch Namen, Namen sind bei einem solchen Ausblick ohne Bedeutung. Bilder und Eindrücke wirken.  

Etwas tiefer liegend, direkt am Brienzer See, schaut die Axalp heraus. Etwa 1000 Höhenmeter über der Wasseroberfläche hat sich das kleine Dorf  in den Berg eingebettet. Die Axalp ist deshalb von Bedeutung weil sie noch eine zentrale Rolle in meinem kleinen Abenteuer spielen wird. Nicht zuletzt weil uns eine Ferienwohnung ein paar Jahre zuvor, schon einmal beherbergt hatte.

Wir, meine Familie und ich, mieteten uns eine Ferienwohnung am Rand von Brienz. Der anliegende Miniwald ist von einem Trimm-Dich-Pfad durchkreuzt. Ein Blick aus dem Fenster zielt direkt auf den See. Wir machten zahlreiche Ausflüge und Badebesuche. Es war wie immer. Wir wanderten, und die Damen der Familie fuhren mit der Bahn. Ich will damit nicht verallgemeinern, aber bei uns ist es so. Nicht immer aber meistens. 

Meine Absicht war es das anspruchsvolle Gelände nicht nur für Wanderungen zu nutzen. Vielmehr wollte ich die Umgebung im Laufschritt erkunden. An den ersten Tage tastete ich mich gleich an die ersten Bergfüße heran. Teilweise lief ich eine Halbe Stunde auf einem geschlängelten Weg in die Höhe. Anschließend wieder bergab. Flache Teilstücke waren weit und breit nicht zu finden. Immer hoch und wieder runter. Es machte Spaß. Einmal den Rhythmus gefunden, gab es kein Halten mehr. Immer länger traute ich mich an die Steigungen. Die von Meter zu Meter besser werdende Aussicht trug ihren Teil bei. Angenehmen Abendtemperaturen und klare sowie saubere Bergluft boten hier hervorragende Bedingungen. Oft empfing mich ein Sonnenuntergänge als ich schweißgebadet von meinen Bergläufen zurückkam. Es konnte an diesen Tagen keinen schöneren Abschluss geben.

Es war einer der letzten Tage als ich es noch einmal wissen wollte. Ein langer Lauf war mein Vorhaben. Eigentlich nichts ungewöhnliches. Schon zu Hause lief ich oft über 1 1/2 Stunden. Doch hier hatte ich mir etwas ganz besonderes vorgenommen. Ich wollte die Axalp erklimmen. Wollte noch einmal unser Ferienhaus aus vergangenen Tagen sehen. "Lediglich" ein Höhenunterschied von 1000m lag dazwischen. Ich war gut trainiert, hatte hier schon zahlreiche Bergstücke bewältigt. Ich war hoch motiviert. 

Aus irgendeinem unverständlichen Grund verließ ich die Wohnung an diesem wunderschönen Tag schon zur Mittagszeit. Vielleicht weil eine besondere Herausforderung auch besondere Bedingungen brauchte. Doch in diesem Fall waren es keine Besonderen, in diesem Fall waren es Mörderische. Ich verabschiedete mich noch kurz bei meinen Eltern mit den Worten :" In 1 1/2 Stunden bin ich zurück!" Vergeblich versuchten sie mich der Sonne fern zu halten. Aber wer befolgt schon die Ratschläge seiner Eltern :-)  Der Asphalt glühte. Die Hitze ließ an diesem Tag  niemanden unberührt. Durch Sonnenbrille und kurzes Laufdress versuchte ich mich dieser best möglich anzupassen. Eine Mütze hielt ich für unnötig. 

Den ersten Kilometer ging es noch am See entlang. Im Schatten der Bäume oder im kalten Wasser versuchten sich  Badegäste vor der Sonne zu schützen. Eis war ihr Hauptnahrungsmittel. Doch all das lies mich unberührt. Ein paar irritierte Blicke von Bikern, die sich vor einem Festzelt unterhielten, blieben mir nicht unbemerkt. Ich wusste genau was sie dachten. nie im Leben würden sie mit mir tauschen wollen.  Ich näherte mich dem Einstieg. Die Beine waren locker, der Atem ging ruhig. Noch! Natürlich hatte ich keine Verpflegung in Form von Wasser dabei. Zu sehr war ich auf die Herausforderung  fixiert. da konnte ich keinen Ballast gebrauchen.

Es ging bergan. Eine schmale asphaltierte Landstraße sollte in den nächsten Stunden mein Begleiter sein.  Häuser wurden immer seltener. Im unteren Teil schützte mich noch ein Tannenwald vor der Sonneneinstrahlung. Es lief gut. Der Weg schlängelte sich am Berg empor. Ich zog an Biergärten vorbei. Im Schatten sitzend, schienen es die erschöpften Wanderer zu genießen wie ich schwitzend nach oben lief. 

Gott sei Dank schenkten mir, am Straßenrand stehende Brunnen, ab und zu eine kleine Erfrischung. So tauschte ich den Schweiß, der sich wie ein Film auf meiner Haut gebildet hatte, durch frisches und kaltes Quellwasser. Die Bewaldung löste sich langsam auf. Nur noch einzelne Bäume legten dunkle Schatten auf die anliegenden Felder. Kühe waren jetzt meine Zuschauer. Wie faul und zufrieden sie da im Schatten lagen. Nie würden sie auf die Idee kommen auch nur einen Schritt zu tun. Lediglich ihre Schwänze versuchten die Fliegenschwärme fernzuhalten. Nur das Nötigste. Davon konnte bei mir nicht die rede sein. Bus oder Auto hätten mir vieles leichter machen können. Doch Spaß hätte es sicher nicht so vielen gemacht. Ja, es machte Spaß. Trotz aller Anstrengungen würde ich es noch einmal auf mich nehmen.

Jetzt war die Zeit gekommen wo mich die Sonne auf dem Grill hatte. Nichts außer meiner nassen Kleidung, schützte mich noch. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir das ich 45min  unterwegs war. Die Beine fingen langsam an zu schmerzen. Der Pulsschlag war auch im Kopf gegenwärtig. Stehen bleiben oder umkehren wäre die logische Konsequenz gewesen. Doch es konnte nicht mehr weit sein. Ich kämpfte  weiter.

Endlich war ich da. Grüne, saftige Wiesen schlossen die vereinzelten Berghütten ein. Es war als hätte sich nichts verändert. Hier hatten wir geparkt. Haben unser Gepäck den schmalen Trampelpfad nach oben ins Haus geschleppt.  Ein paar Hundert Meter weiter nach oben. Ja, hier haben wir immer Eis gegessen, Postkarten verschickt und Zeitung gekauft. Sogar der vollbärtige Kioskverkäufer war noch da. Als Almöhie war er mir Erinnerung geblieben. Kein Schweißtropfen, kein Schmerz hatte ich umsonst am Berg gelassen. Jetzt war ich oben. 1000 Höhenmeter in 60 Minuten. Es gab in meiner Trainingslaufbahn, nie zuvor einen vergleichbaren Kraftakt. Als ich die Aussicht noch ein wenig genoss und hinunter auf den glitzernden See schaute, wurde mir klar was noch vor mir lag. und ich wusste das bergab oft schlimmer ist als bergauf. besonders dann wenn der Untergrund aus Stein ist. Nur schwer konnte ich mich von der Umgebung wieder losreißen. Ein Druck auf die Uhrentaste und ich stürzte mich wieder ins Tal. 

Die ermüdeten Muskeln konnten nur noch schwer den Auftritt auf dem Asphalt abdämpfen. Doch langsam erholte  ich mich wieder. Die geringe Anstrengung  ermöglichte es mir wieder etwas Energie zu tanken. Ich würde sie wieder  brauchen.

An einer Weggablung angelangt, fühlte ich mich schon wieder so fit, dass ich sogar einen kleinen Umweg in Kauf nahm. Statt dem rechten Weg zu folgen schwenkte ich links ein. Ich hoffte, dass ich unten am See entlang wieder auf den direkten Weg kommen würde. Also ließ ich meinen Gehdanken Taten folgen und "rollte" den Waldweg hinunter. Dichter Tannenwald bescherte mir endlich wieder etwas kühlere Temperaturen. Sogar ein Wasserfall bot mir eine angenehme Erfrischung. Der Bach, der das Wasser weiterführt sollte für die nächsten Minuten mein Orientierungspunkt sein. Der Weg folgt ihm.

Langsam schimmerte die glatte Oberfläche des Sees zwischen den Bäumen hindurch. Endlich wieder unten. Doch was mich erwartete war alles andere als erlösend. Ein Schiffsanlegestelle war sozusagen das Ende der Sackgasse. Ein Weg am See entlang suchte ich vergeblich. Geld für eine Fahrkarte war auch keines vorhanden. Es gab nur einen Ausweg. Zurück. Wieder hinauf. Hinauf zur Kreuzung. Schon beim Runterlaufen bereiteten mir die steilen Waldwege Probleme. Ich wollte gar nicht daran denken. Ich legte eine kleine Pause ein. Belohnte meine strapazierte  Beine, erst einmal mit einem Bad im kühlen Nass. Sie dankten es mir. Nachdem sie anfingen zu frieren, zwang ich sie wieder in die nassen Socken. Die Schuhe schienen ein paar Nummern zu klein zu sein. So stark hatten sich die Füße durch die starke  Durchblutung beeinflussen lassen.

Also wieder hoch. Mit kurzen aber dennoch langsamen Schritten hebelte ich mich nach oben. Hin und wieder mussten meine Hände die müden Beine stützen. Jede Möglichkeit war mir jetzt recht. Ich wusste, wenn ich an der Weggabelung angelangt war, ging es nur noch bergab. Die letzten Reserven wurden mobilisiert. Obwohl ich noch ein ganz schönes Stück vor mir hatte, konnte ich jetzt schon todmüde in ein Bett fallen. Augen zu und nichts mehr machen. Nur daliegen und entspannen. Doch je mehr ich an diese Situation dachte, desto länger kam mir die Strecke bis dorthin vor. 

Oben angekommen lies ich mich fast die Asphaltstraße hinunter fallen. Jeder Schritt schien meinen ganzen Körper zu zerlegen. Aber ich fühlte mich nicht deprimiert, traurig oder schlecht. Eine innere Befriedigung trieb mich voran. Denn ich hatte mein Ziel ja bereits geschafft. War oben auf der Axalp. Was jetzt kam, war Zugabe.

Ein Läufer oder eine Läuferin kam mir auf dem Weg Richtung  See entgegen. Wollte er oder sie etwa auch bei dieser Hitze  diese Strapazen auf sich nehmen? Ein kurzer Gruß und ich fühlte mich gleich viel besser. Es gibt noch mehr solcher "Verrückter". Ich war nicht allein. 

Die Badegäste und das Festzelt nahm ich gar nicht mehr richtig wahr. Ich wollte nur noch Heim. Dort wo eine kalte Dusche und ein Bett auf mich warteten. Die Beine schmerzten, der Körper fühlte sich an, als sei er ausgebrannt. Ausgebrannt von diesen langen Strapazen. Die Kohlenhydratspeicher mussten bis aufs Letzte geleert gewesen sein. Alles andere wäre auch nicht normal gewesen.

Ich blieb einfach nur stehen. die Uhr zeigte eine Zeit von 2:39h an. 2 Stunden und 39 Minuten. Nie zuvor war ich auch nur annähernd so lange gelaufen. Nicht damals und auch nicht heute. Ich schlürfte  ins Haus. Meine besorgten Eltern wollten wissen was los war, wo ich so lange gewesen sei. Ich weiß nicht ob ich es ihnen erzählt habe. Weiter ging es in die Küche. Ein Apfelsaftschorle nach dem anderen verschwand in mir. Eine Sprudelflasche  reihte sich an die nächste. Ich trank bis ich nicht mehr konnte. Dann warf ich mich unter die kühle Dusche. Die Wassertropfen wirkten wie Fremdkörper auf meiner strapazierten Haut . Aber es erfrischte. Die nächste Station hieß Bett. Ich ließ mich in die weiche Decke fallen. Augen zu und weg war ich. Mein Körper ließ mir keine Chance. Er resignierte, wollte Ruhe, sich erholen. Ich war ihm nicht böse. 

 

Anmerkung: 1999, im Alter von 16 Jahren  erlebte ich dieses Laufabenteuer.

Stefan Faiß (18./19.03.2002)